Wie die Politik den Bürger ausschaltet
Anders als der Althistoriker Christian Meier läßt der Philosoph Peter Sloterdijk zu, daß seine Gedanken in reformierter Rechtschreibung veröffentlicht werden. Daher dürfen sie auch im Spiegel erscheinen. Von ihm ist bei Spiegel online jetzt ein umfangreicher Essay zu lesen, wohl angeregt durch „Stuttgart 21“ und die Finanzkrise. Auch die „Rechtschreibreform“ hätte dabei eigentlich erwähnt werden müssen, deren Ablauf beispielhaft für Politikerarroganz und die erwähnten Mißstände ist. – Hier nur einige markante Sätze (Hervorhebungen von mir):
Der verletzte Stolz
Von Peter Sloterdijk
Über die Ausschaltung der Bürger in Demokratien
Wann immer Politiker und Politologen sich über den Zustand einer modernen res publica Gedanken machen, drängen Reminiszenzen an das alte Rom sich auf. … Mochten auch die Caesaren ihre Dekrete nach wie vor mit der geheiligten Formel Senat und Volk von Rom (SPQR) absegnen es stand doch fest, dass beide Instanzen so gut wie völlig entmachtet waren…
Was wir jetzt mit dem griechischen Ausdruck Politik umschreiben, ist ein Derivat des Ehrsinns und der stolzen Regungen gewöhnlicher Menschen. …
Die Unverletztheit der zivilen Würde gilt als höchstes Gut. Der öffentliche Argwohn wacht darüber, dass Arroganz und Gier, die immer virulenten Hauptmächte der Gemeinheit, in der res publica niemals die Oberhand gewinnen…
Hat nicht der von Großbritannien ausgehende Diskurs über Postdemokratie, also der Gedanke, dass Bürgerbeteiligung durch die höhere Kompetenz politischer Spitzenentscheider eingespart werden kann, diskret die Parteizentralen und soziologischen Seminare in der westlichen Hemisphäre erobert? …
Die Rechnung wurde ohne den Bürgerstolz gemacht
… Zwar fehlt es nicht an Hinweisen darauf, dass wir postrepublikanischen und postdemokratischen Zuständen entgegengehen. Deren signifikantestes Symptom, die erneute Bürgerausschaltung durch eine monologisch in sich verschränkte Staatlichkeit, ist heute auf breiter Front zu diagnostizieren. …
Wenn heute die Bürgerausschaltung trotz aller Aufgebote an Expertokratie und Amüsierkultur nicht ganz gelingt, so darum, weil man die Rechnung ohne den Bürgerstolz gemacht hat….
Der unbequeme Bürger weigert sich, ein politischer Allesfresser zu sein, duldsam und fern von nicht hilfreichen Meinungen. Diese informierten und empörten Bürger verfielen plötzlich, man begreift nicht wie, auf den Gedanken, den Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes auf sich selbst zu beziehen, wonach alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe. …
Die psychopolitische Regulierung des Gemeinwesens läuft aus dem Ruder
… In der repräsentativen Demokratie werden Bürger in erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken…
Den Römern der Caesarenzeit gelang ihr Entpolitisierungskunststück, weil die kaiserzeitlichen Eliten lange Zeit den Ansprüchen ihrer Bürgerwelt halbwegs brauchbare Ersatzangebote machten …
Im Vergleich hiermit springt die Hilflosigkeit unserer politischen Klasse in allen Belangen des thymotischen Haushalts ins Auge. Sie hat den Bürgern oft nicht mehr zu bieten als die Aussicht auf Teilhabe an ihrer eigenen Kläglichkeit …
Wird die Frage gestellt, wie das breite Volk auf die Performance der Regierenden reagiert, verzeichnen Meinungsforscher seit einiger Zeit am häufigsten die Auskunft: mit Verachtung. …
Bürgerausschaltung als Beruf
… Es überrascht nicht, wenn Verachtung spontan auf Verachtung antwortet…
Berufsprotestierer, Freizeitanarchisten, Stimmungsdemokraten, Altersegoisten, Wohlstandsverwahrloste! In diesen Vokabeln fassten die Landesregierung und ihre Alliierten in der Hauptstadt ihre Eindrücke von den Zehntausenden zusammen, die gegen ein zerbröckelndes Großprojekt auf die Straße gingen.
… man schuldet diesen Politikern Dank, dass sie endlich aussprachen, wie sie über die Bürger denken…
Manche Journalisten wissen, wie sie das Ihre zum Werk der Bürgerausschaltung beitragen können…
Bürgerausschaltung als Beruf das ist gelegentlich noch härter als das übliche Bohren von harten Brettern…
Für die politische Klasse kommt hinzu, dass die moderne Bürgerausschaltung sich als Einbeziehung des Bürgers präsentieren will…
Die meisten Staaten spekulieren auf die Passivität der Bürger
… Die Zukunft wird bestimmt sein vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen Modus der Bürgerausschaltung…
spiegel.de 8.11.2010
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