Re: Errare Poppi est
Zitat: Ursprünglich eingetragen von margel
Frau Popp begeht den Irrtum, zu glauben,
Im Gegenteil, ich glaube, wenn überhaupt, dann nur in der Religion. Ansonsten will ich Beweise sehen.
weil die schriftlich niedergelegte Sprache immer auf die gesprochene verweist,
Diese Aussage ist entweder dumm oder falsch. Entweder möchten Sie bestreiten, dass die eigentliche Sprache aus Inhaltsseite und Ausdrucksseite (Aussprache) besteht, was dumm wäre, oder Sie wollen behaupten, ich nähme an, jegliche Verschriftung eines Texts sei ausschließlich auf die Ausdrucksseite der Sprache bezogen, wovon keine Rede sein kann.
Wie gesagt gibt es ganz unterschiedliche Verschriftungstechniken für die menschliche Rede, entweder durch Morphographie, wie im Chinesischen (hat prinzipiell mit der Aussprache nichts zu tun) oder durch mehr oder weniger aussprachebezogene Alphabetschreibungen, oder auch durch haargenaue elektronische Abbildung der akustischen Seite der menschlichen Rede.
sei die Schreibung ganz untergeordnet
Das stimmt. Die Prinzipien der Verschriftung sind grundsätzlich nicht sprachlicher als die der Tonbandtechnik.
und allenfalls eine Wiedergabe der Lautung.
Das hab ich nie gesagt und es wäre auch Unsinn.
Darum kann sie auch mit bedeutungsunterscheidenden Schreibweisen begrifflich nichts anfangen.
Wie kommen Sie auf diesen seltsamen Einfall? Sogar auch die Alphabetschreibungen, die immer PRINZIPIELL auf Aussprachliches bezogen sind, geben ab und an Bedeutungsunterschiede wieder, die in der Aussprache nicht zum Ausdruck kommen. (Viel in den Sprachen mit viel Homophonie wie im Französischen; vgl si/scie 'ob, Säge'.)
Das ist aber nur ein schwacher bzw überhaupt kein Ausgleich für die beim Schreiben fehlende Intonation und nichts, was der Schreibung die Ausdruckskraft, den Status oder das geschichtliche Eigenleben der natürlichen Aussprache verleihen könnte.
Die Leute könnten zumindest prinzipiell auch ohne Schreibung sprachlich kommunizieren. Wir könnten unsere Diskussion, wenn wir wollten, auch in Ton-Dateien miteinander führen. Die Aussprache ist eben ein autonomes sprachliches Ausdruckssystem. In der Alphabet-Schreibung könnte man nicht mal die einzelnen Buchstaben definieren, ohne sich auf Einheiten der Lautung (Phoneme) zu beziehen. Die Schreibung kann die Intentionen des Schreibers gelegentlich unterstützen, sie ist schärfer umrissen als die Aussprache; aber das ändert an ihrem künstlichen, sekundären Status im Prinzip nichts.
Daß bereits die Orthographie den Leser zum richtigen Verständnis (im Sinne des Schreibers) führen kann und soll vor jeder Umsetzung in gesprochene Sprache will ihr nicht einleuchten.
Mir leuchtet stattdessen ein, dass Sie den mickrigen Status der Schreibung als eines bloßen Zusatzcodes nicht raffen.
In Wirklichkeit liest natürlich auch Frau Popp genau so wie wir alle und nicht wie ein Erstkläßler, der sich den Sinn des Geschriebenen noch über das laute Lesen erschließen muß.
Und woraus schließen Sie, dass ich DIES irgendwo gemeint hätte?
Übrigens bestätigen Sie mit Ihrem Hinweis auf den Sieg des stillen Lesens (eine kulturgeschichtlich späte Errungenschaft) die Notwendigkeit einer einheitlichen Rechtschreibung, denn das stille Lesen ist anscheinend parallel mit dem Buchdruck und der damit einhergehenden Vereinheitlichung der Orthografie
aufgekommen. (Zuvor riefen sich die Leser durch lautes Lesen die ihnen lautlich bekannten Wortkörper ins Gedächtnis, die sich durch die bloßen Schriftbilder oft nicht einstellten. Vgl die frühneuenglische Schreibung coquadrille 'crocodile', Frau Rat Goethes Manusprickte.)
Geschriebene Sprache ist Sprache eigenen Rechts und unterliegt eigenen Gesetzen.
Unprofessioneller Gebrauch des Ausdrucks Sprache und Schwellstil, da die großartigen eigenen Gesetze bei näherem Hinsehen nur ein paar Einzelheiten des grafischen Code betreffen und allenfalls ein paar Einzelheiten des geschriebenen Stils.
Die Orthographie als ein Hilfsmittel (Werkzeug) zum richtigen Verständnis des Gelesenen,
Das SOLLTE sie sein; das WAR sie in der Geschichte der deutschen Rechtschreibung im vollen Umfang noch nie; und bei den tatsächlichen Grauzonen in der natürlichen Sprache würde man sie auch überfordern, wenn man das von ihr in jedem Punkt verlangte.
Ergebnis eines langen, immer fortschreitenden Optimierungsprozesses, kann nicht beliebig manipuliert werden, ohne Schaden zu nehmen.
Kappes. Die Geschichte der Rechtschreibungen der europäischen Länder sind voll von historischen Zufällen und Wildwuchs. Die Geschichte der englischen Rechtschreibung ist eine Geschichte der fortschreitenden Pessimierung; und da hat nie einer regulierend eingegriffen. Wir hatten in Deutschland bloß insoweit Glück, als die deutsche Rechtschreibung erst relativ spät kodifiziert worden ist, wodurch sie einen besseren Passungsgrad zur Aussprache behalten hat als das Französische oder das Englische. Deswegen hat sie trotzdem (und hatte sie vor der 1996er Reform) genug Elemente der Unzweckmäßigkeit.
Sie IST die meiste Zeit beliebig geordnet worden; die Schreibregeln waren eigentlich immer in der Hand einiger weniger Experten (im Mittelalter zB in der Hand der Leiter der Schreiberschulen); ihre Entwicklung zeigt eine Willkürlichkeit, die sich bei der Entwicklung der natürlichen Sprache nirgends findet; und es ist nicht einzusehen, warum die moderne Gesellschaft den Regelungs- und Vereinheitlichungsbedarf nicht in die Hand einiger Experten hätte legen sollen, die immerhin besser ausgewiesen sind als die mittelalterlichen Leiter von Schreibschulen oder die Verlagslektoren des 18. Jh.
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