Das Berliner Volksbegehren
Lieber Herr Wagner,
zufällig habe ich gestern in meinen Unterlagen geblättert und Dokumente über das Berliner Volksbegehren überflogen. Das Berliner Volksbegehren war damals eine entscheidende Sache. In den meisten Bundesländern liegen die Hürden für das Volksbegehren viel zu hoch und sind überdies ärgerlich uneinheitlich innerhalb Deutschlands. Die erste Stufe (Volksinitiative = Antrag auf ein Volksbegehren) kann man bewältigen, aber die zweite Stufe (Volksbegehren = Antrag auf einen Volksentscheid) ist nur in wenigen Ländern zu schaffen. Für das Volksbegehren in Schleswig-Holstein mußten Unterschriften von 5 Prozent der Bevölkerung in 6 Monaten gesammelt werden; das geht gerade noch, wenn viele Leute sehr fleißig sind und das Ganze gut koordiniert wird. (Danke, Herr Dräger!) In den anderen Ländern ist das Volksbegehren viel schwieriger.
In Berlin war die Vorgabe: 10 Prozent in zwei Monaten. In manchen östlichen Ländern liegt die Latte niedriger, aber das sind Flächenländer, und es gab dort andere Probleme, die Rechtschreibreform konnte die Leute nicht mobilisieren. Deshalb versuchten wir es in Berlin, nachdem Schleswig-Holstein der erste erfolgreiche Volksentscheid überhaupt außerhalb Bayerns gewesen war. (Auch in Schleswig-Holstein, Bremen und anderen Ländern gab es bemerkenswerte Versuche; zu nennen ist natürlich auch und als erster Friedrich Denk in Bayern.) Es bestand eine gewisse Aussicht: Wenn noch ein zweites Land aufgrund des deutlichen Votums der Bürger die Rechtschreibreform abschafft und zwar die Hauptstadt , dann bricht sie zusammen, weil dann die Politiker keine Lust mehr haben, sie weiter zu verteidigen.
Herr Riebe hat damals als Vorsitzender des VRS hervorragende Arbeit geleistet. Unter anderem hatte er die Idee, Prominente für unsere Sache zu gewinnen. Diese Aufgabe übernahm ich. Ich schrieb ungefähr 150 Prominente aus Kultur, Wirtschaft usw. an und legte die Peilsche Liste und eine 36seitige Dokumentation des VRS bei, die Herr Riebe und ich erarbeitet hatten. Die meisten Angeschriebenen reagierten nicht, es gab höfliche Absagen, aber es meldeten sich auch zwei wichtige Unterstützer. Einer davon war Manfred Krug.
Herr Krug kommentierte in einer brieflichen Reaktion an mich die Rechtschreibreform schonungslos. Ich antwortete, und er bot schließlich telefonisch als Hilfe an, daß wir seine Äußerungen in der Öffentlichkeit zitieren dürften. Der zweite Unterstützer bot uns finanzielle Hilfe an, und ich sagte, das wichtigste sei eine Postwurfsendung, damit die Berliner Bürger überhaupt wüßten, daß es ein Volksbegehren gibt und wo man unterschreiben kann. Die 91 Stellen, wo man unterschreiben konnte, wurden nämlich nur in einem amtlichen Mitteilungsblatt veröffentlicht, also kannte sie niemand. In keiner Zeitung standen sie. Dabei handelte es sich um das erste Volksbegehren in Berlin.
Also konnten wir eine Postwurfsendung machen mit der Überschrift: Das Volksbegehren Schluß mit der Rechtschreibreform! Die Berliner Bürger können jetzt die Rechtschreibreform stoppen Alle Berliner Bürger sind zur Teilnahme aufgefordert. Wir zitierten den Wortlaut der amtlichen Benachrichtigung zur Teilnahme und machten die Auslegungsstellen bekannt. In der Mitte der 6seitigen Information stand umrahmt das Zitat von Manfred Krug: Die neue Rechtschreibung ist derart schlecht, häßlich, unlogisch und kompliziert, daß ich nur sagen kann: zum Ekeln. Grandios unbrauchbar. Dieses Werk gehört abgeschafft. Ich kann nur hoffen, daß möglichst jeder Berliner Bürger ins Rathaus geht und das Volksbegehren unterschreibt. Soviel Zeit muß sein! Ohne diese Postwurfsendung an alle Haushalte mit Tagespost wären wir etwa bei 2 Prozent herausgekommen, wie wir anhand der wöchentlichen Zahlen extrapolierten; so wurden es am Ende 4,4 Prozent (aus dem Gedächtnis).
Die konkrete Arbeit Verteilen von Flugblättern, Pressearbeit übernahm der BVR. Es gab zu wenig Aktive, aber vor allem eine einheitliche Sabotage von oben und durch die Medien, die sich vornehm zurückhielten und die Reform überhaupt nicht thematisierten, auch kaum das Volksbgehren als politisch höchst wichtigen Vorgang. Meine wichtigste Fehleinschätzung war, daß die Medien mit breiter Berichterstattung in das Thema einsteigen würden, nachdem wir die Bevölkerung mit unserer Information mobilisiert hätten. Das war aber nicht der Fall. Sonst hätte ich unserem Sponsor gleich gesagt: Wir brauchen fünf Postwurfsendungen, eine oder zwei ausführliche und dann noch mehrere kleine mit Flugblattcharakter.
Im BVR hatte jemand die Idee, daß uns Manfred Krug auch mit Funkspots unterstützen könnte. Er nahm sich die Zeit, spitzte meine Textvorschläge noch zu und nahm die Spots auf, ohne Honorar. Sie liefen auch, bis sie von der Medienanstalt gestoppt wurden. Das logische Problem war von vornherein, daß wir eigentlich unabhängig von unserer Haltung zur Reform im Sinne bester Demokratie ALLE Bürger aufrufen konnten und wollten, für die Möglichkeit des Volksentscheids zu sorgen, denn erst in dieser dritten Stufe würde ja die eigentliche Abstimmung über das Thema stattfinden. Aber das hätte niemand verstanden, wenn wir neutral aufgetreten wären, und es hatten ja auch nur die Reformgegner Anlaß, eine Entscheidung des Volkes in Gang zu setzen. Also mußten wir den an sich grunddemokratischen, neutralen Aufruf zum Volksbegehren von Anfang an mit einer Anklage gegen die Reform verbinden und mit der Aufforderung, sie abzuschaffen. Dies gab der Medienanstalt die Möglichkeit, die Aufrufe von Herrn Krug als einseitige Thematisierung zu unterdrücken.
Auch bei den Prominenten sah es also so aus, daß die meisten wohl gegen die Reform waren, aber nur einzelne, zu wenige setzten sich dagegen ein. Wirklich skandalös war aber das Verhalten der Berliner Medien und natürlich der Berliner Behörden, die die Demokratie konsequent und erfolgreich verhinderten. Überhaupt die Medien: Daß es dieses erste Berliner Volksbegehren gegeben hat, weiß außerhalb von Berlin so gut wie niemand. Darüber wurde nämlich nicht berichtet. Welche Reifen Schumi beim nächsten Rennen aufzieht oder ob Dieter Bohlen mit einer Neuen gesehen wurde, das erfährt man hingegen in sämtlichen Nachrichtensendungen.
– geändert durch Wolfgang Wrase am 17.07.2003, 09.31 –
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