Veränderung der Fehlerzahlen durch die Rechtschreibreform

Beispiel: Süddeutsche Zeitung Nr. 143, 24./25. Juni 2000 (Stadt-Ausgabe)
im Vergleich mit Süddeutsche Zeitung Nr. 13, 17./18. Januar 1998 (Stadt-Ausgabe)
 

Teil II: Statistische Auswertung und Schlußfolgerungen
 

Ziele der Untersuchung

Es soll empirisch festgestellt werden, wie sich die Zahl der Rechtschreibfehler durch die Rechtschreibreform langfristig verändert.

Die Redakteure der Süddeutschen Zeitung (SZ) hatten Ende Juni 2000 rund zehn Monate intensive tägliche Beschäftigung mit den neuen Regeln hinter sich. Da ihre Texte von vielen tausend Lesern gelesen werden, hatten sie eine außergewöhnlich hohe Motivation, die Regeln schnell und vollständig zu beherrschen. Sie gehören zu einer Spitzengruppe der schreibenden Zunft, die für eine hochangesehene Zeitung schreiben oder Texte redigieren und schon vor der Reform intensives Korrekturlesen gewöhnt waren, das heißt auch die bewußte Anwendung von Regeln.

Aus diesen Gründen waren die SZ-Redakteure zu diesem Zeitpunkt bei der Beherrschung der neuen Regeln schon weiter, als es die allermeisten anderen je sein werden. Wenn die Reform sich segensreich auf die Fehlerquote auswirkt, muß sich das folglich in einer Ausgabe von Ende Juni 2000 bereits zeigen. Falls sich kein positiver Effekt eingestellt hat oder gar eine Verschlechterung, ist das repräsentativ für die langfristige Auswirkung der Rechtschreibreform in der gesamten Bevölkerung, denn die große Masse der Schreibenden müßte ja erst einmal so weit kommen wie das hochkompetente Kollegium der SZ-Redakteure. Anders gesagt:

Was sich von der Neuregelung in der SZ Mitte 2000 in bezug auf das Ziel der Fehlerverminderung als schädlich erweist, wird es immer sein und muß früher oder später zurückgenommen werden.

Im folgenden werden die zwei Ausgaben vor und nach der Reform statistisch verglichen. Dabei sollen vier Fragen geklärt werden:

1. Wie hat sich die Fehlerquote insgesamt verändert?

2. Wie hat sich die Fehlerquote in den reformierten Bereichen insgesamt verändert?

3. Wie hat sich die Fehlerquote in einzelnen Bereichen verändert?

4. Wie hätte sich die Fehlerquote verändert, wenn statt der neuen Regeln die allgemein übliche Rechtschreibung zur Norm geworden wäre?

Es versteht sich, daß die zweite Frage viel wichtiger als die erste ist, denn natürlich wird niemand erwarten, daß die Fehlerzahlen bei denjenigen Regeln zurückgehen, die gar nicht geändert wurden. Deshalb wird hier konsequent versucht, den „Netto-Einfluß“ der Reform herauszuarbeiten. Nur so kann geklärt werden, welche Regeln in welchem Maß nützlich oder schädlich sind.

Die vierte Frage wird untersucht, weil die Reform mit der Begründung in Gang gesetzt wurde, daß die vom Duden formulierten Normen in manchen Bereichen besonders schwer beherrschbar und willkürlich gewesen seien. In der Tat war Rechtschreibung (Konsensschreibung, die Schreibung der Mehrheit) nicht dasselbe wie ihre Darstellung im Duden. Der Duden hatte seine Aufgabe, den Schreibgebrauch festzuhalten, zwar sehr gewissenhaft verfolgt, war aber in dreierlei Hinsicht nicht wirklich zuverlässig:

1. Vor allem bei Fremdwörtern war der Duden nie auf der Höhe der Zeit.

2. Manche Regeln waren nicht differenziert genug, andere waren zu eng gefaßt.

3. Das Wörterverzeichnis enthielt unrealistische und unbefriedigende Einzelwortfestlegungen. Das Wörterverzeichnis wurde gerade bei Zweifelsfällen als Regeltext ausgegeben und verstanden – statt als selektive Auswertung einer Belegsammlung, an der man sich im Zweifel orientieren kann, aber nicht muß. Befördert wurde diese schädliche Interpretation durch das kultusministerielle Duden-Privileg von 1955 und den Untertitel des Rechtschreibdudens: „Maßgebend in allen Zweifelsfällen“.

Dabei bestehen Zweifelsfälle ja gerade darin, daß verschiedene Kriterien sich die Waage halten, so daß die eine Schreibung ebenso plausibel sein kann wie die andere. Entsprechend differenziert ist die reale Verteilung der Schreibungen. Den Ausschlag im Einzelfall gibt oft erst das Zusammenspiel der Kriterien (Bedeutung, Unterscheidungsaspekte, Betonung, Flexion, Syntax, stilistischer Eigenwille), das von Fall zu Fall anders aussehen kann. Die Vereindeutigung von Zweifelsfällen und die Normierung von Einzelfällen impliziert jeweils einen inneren Widerspruch. Deshalb hat die übertriebene Normungsfreudigkeit der Duden-Redaktion im Wörterverzeichnis zu unbefriedigenden Festlegungen geführt.

Das Rechtschreibwörterbuch von Theodor Ickler versucht diese drei Fehler des Duden zu vermeiden, insbesondere den Irrweg der gewaltsamen Normung von Zweifelsfällen. Es ist dem Prinzip verpflichtet, den Schreibgebrauch so darzustellen, wie er überwiegend aussieht. Als notwendig hat sich vor allem die Neuformulierung des Bereichs Getrennt-/Zusammenschreibung (GZS) erwiesen; dazu kommen unter anderem aktuellere Einzelwortschreibungen und eine wahrhaft behutsame, aber wirksame Liberalisierung bei den Kommaregeln.

Damit kann die Frage statistisch untersucht werden, was aus den Fehlerzahlen werden würde, wenn der Duden von 1991 und die Neuregelung durch ein Verzeichnis des tatsächlichen Schreibgebrauchs ersetzt würden; dies wird bei den Kommaregeln, bei der Laut-Buchstaben-Zuordnung (LBZ) und der GZS teilweise erhebliche Auswirkungen zum Vorschein bringen.
 

Von der Statistik zur Fehlerquote

Insgesamt 16 Fehlerkategorien wurden eingerichtet und in den relevanten Bereichen weiter unterteilt, siehe zur besseren Übersicht Fehlerkategorien und Fehlertabelle.

Zunächst stehen sich gegenüber: 906 dokumentierte Fehler 2000 und 530 dokumentierte Fehler 1998. Davon müssen aber sofort die nur für 1998 erfaßten Kategorien abgezogen werden: Stil (27), Typographie und Standards (36). Hier sind Mängel sowieso nur sehr selektiv dokumentiert worden und oft zusammengefaßt unter einer Nummer. Die Erwähnung hatte den Sinn, für die Interessierten eine etwas ausgewogenere Darstellung der Probleme zu ermöglichen; denn ohne Zweifel stört den Leser ein schwerer Stilbruch mehr als mancher Kommafehler, und andererseits gehört auch eine ordentliche Textverarbeitung, die einen Gedankenstrich von einem Bindestrich zu unterscheiden weiß, zur Textqualität. Die sehr geringe Zahl auffälliger stilistischer Fehlgriffe spiegelt übrigens das hervorragende Niveau der Süddeutschen Zeitung wider.

Zwischenstand: 843 zu 530.

Dann gibt es weitere Kategorien, die abgezogen werden müssen. Zuerst Grammatik (80/68), denn Grammatikfehler gehören nicht zum Regelungsbereich der Rechtschreibung. Weiter Tippfehler und Textfehler (84/111), denn sie können nicht durch Regeländerungen beeinflußt werden, sondern nur durch mehr Sorgfalt. Hier zeigt sich ein Rückgang um rund 30 Prozent; dies könnte ein Hinweis auf intensiveres Korrigieren sein. In der Tat ist im Jahr nach der Reformumsetzung wohl mehr Konzentration auf Rechtschreibung verwendet worden als jemals zuvor. Ein solcher unspezifischer Effekt der Fehlerverminderung aufgrund von erhöhter Aufmerksamkeit müßte sich allerdings auch zumindest in einigen Regelbereichen zeigen. Schließlich ist abzuziehen die Kategorie Trennung (28/35), denn Trennungen werden weitestgehend von Software erledigt und lassen deshalb keine Rückschlüsse auf die Fähigkeit der Schreiber zu. Das zeigen auch die Fehler selbst: Regierung- / schef u. ä.

Zwischenstand: 651 zu 316.

Weiter müssen auch sämtliche Fehler der Kategorie Name (60/36) abgezogen werden, denn Eigennamen werden natürlich nicht von Rechtschreibung oder gar von der Reform erfaßt. Das sieht man daran, daß schon vor der Reform Esslingen geschrieben wurde und nach der Reform weiterhin Weßling. Schreibungen wie Therese Giese oder Pélé können der Rechtschreibung also nicht angelastet werden. Die erhebliche Zunahme um rund 70 Prozent ist auf den ersten Blick erstaunlich. Es wird sich aber zeigen, daß in den nicht von der Reform erfaßten Bereichen eine unspezifische Zunahme um ein Drittel Durchschnitt ist. Die verbleibende Abweichung kann im Bereich der statistischen Schwankung liegen.

Zwischenstand: 591 zu 280.

Nun muß nur noch eine kleine Korrektur vorgenommen werden. In zwei Fällen gelangen Fehler nicht in die weitere Auswertung: wenn es sich um zitierten Text handelt, wo vermutlich die originale Schreibweise beibehalten werden sollte, und wenn es sich um fremdsprachiges Material handelt, z. B. trasure statt treasure in einem fortlaufenden englischen Text. Die Zitate wurden dennoch zunächst dokumentiert, weil es nicht einleuchtet, wenn die Rechtschreibreform sämtliche Texte in „alter“ Rechtschreibung für falsch erklärt, daß die Schreibweisen von Heidegger plötzlich wieder verbindlich sein sollen, auch wenn es dieselben sind. Jedenfalls wäre es abwegig, diese Fälle hier einzurechnen. Es sind 9 bzw. 3 Fälle; sie wurden in der Fehlerliste mit einem Stern nach der Kategorie gekennzeichnet. Somit kann die erste Frage beantwortet werden:

Bruttoveränderung der Rechtschreibfehler: 582 zu 277. Die Fehlerquote der Süddeutschen Zeitung wird ungefähr verdoppelt.

Dieses Ergebnis ist niederschmetternd für die Reform, aber für den Fachmann keine Überraschung. Eine Zunahme der Fehlerquote um 50 bis über 100 Prozent entspricht dem, was man in allen möglichen reformierten Texten vorfindet.

Für die SZ ist eine Verdoppelung der Fehlerquote sogar eine Auszeichnung, denn die Erfahrung bestätigt, was die Theorie voraussagt: Die Fehlerquote steigt um so stärker an, je kompetenter die Schreiber sind. Das liegt nicht daran, daß intelligente Schreiber sich nicht umgewöhnen könnten – im Gegenteil, sie sind dazu sehr gut in der Lage, wenn sie dazu gezwungen werden. Es liegt daran, daß solche Schreiber die unantastbaren Grundlagen der „alten“ Rechtschreibung sehr gut beherrschen, so daß für sie vor allem die Höchstschwierigkeiten der Neuregelung mit ihren kaum zu beherrschenden Inkonsequenzen und abstrakten Definitionen übrigbleiben.

So reicht die SZ, obgleich sie unter dem gewaltigen Druck der Tagesproduktion steht, fast an das Niveau des „Spiegel“ heran. Dort hat sich die Fehlerquote (die etwa eine Größenordnung niedriger ist) fast verdreifacht. Aber auch eine Verdoppelung der Fehlerquote spricht für die hervorragende sprachliche Kompetenz der SZ, die natürlich auch ohne diesen Effekt allseits bekannt ist.

Allerdings ist das Bruttoergebnis eigentlich uninteressant, denn die meisten Regeln wurden ja gar nicht verändert. Um die Qualität der Neuregelung angemessen beurteilen zu können, müssen die Fehler danach sortiert werden, ob sich die entsprechenden Regeln geändert haben oder nicht.

Dies gelingt bei der Kategorie Komma (124/82) leider nicht, aus drei Gründen: Erstens hat die SZ die konservative Kommatierung weitgehend beibehalten und macht nur gelegentlich von der Weglaßbarkeit elementarer Kommas Gebrauch, so daß die Auswertung sich nicht auf die Neuregelung selbst bezieht, sondern auf eine moderate Anwendung der Neuregelung; zweitens wurde das Vergleichsmaterial von 1998 ein Stück strenger ausgewertet als die Ausgabe von 2000; drittens ist die Kommasetzung ein sehr fein vernetztes System, in dem sich geringfügige Änderungen auch an unvermuteter Stelle auswirken können, so daß man nur bedingt von veränderten und nicht veränderten Kommaregeln sprechen kann. Aus diesen Gründen muß die Kategorie der Kommafehler vorübergehend außer acht bleiben.

Bei der übrigen Zeichensetzung (einschließlich Bindestrich) wurden folgende Bereiche bzw. Kategorien nicht geändert: Anführung (31/21), Zeichen (1) und (3) (14/5), Bindestrich (1) und (2) (28/18). Geändert wurde Zeichen (2) (8/2) und Bindestrich (3) (12/0). Zusammen: nicht geändert 73/44, geändert 20/2.

Bei der Laut-Buchstaben-Zuordnung waren innerhalb der Einzelwort-Kategorie LBZ (1) nicht betroffen (23/23), betroffen waren (2/2). Die restlichen Kategorien LBZ (2) bis (5) sind alle von Änderungen betroffen (39/9). Zusammen: nicht geändert 23/23, geändert 41/11.

Bei der Groß-/Kleinschreibung wurden nicht geändert die Kategorien GKS (1) bis (4) und (8) (38/25) sowie Doppelpunkt (32/22). Geändert wurde in den Kategorien GKS (5) bis (7) (41/11). Zusammen: nicht geändert 70/47, geändert 41/11.

Bei der GZS waren nicht von Änderungen betroffen die Kategorien GZS (4 a) und (8), alle anderen Subkategorien waren von Änderungen betroffen. Zusammen: nicht geändert 30/30, geändert 160/27.

Nun kann addiert werden: nicht geändert 196/144, geändert 262/51. Damit ist die zweite Frage beantwortet:

Nettoveränderung der Rechtschreibfehler: 262 zu 51. Die Fehlerquote wird in den veränderten Bereichen ungefähr verfünffacht (ohne Kommaregeln). Aber auch in den nicht von Änderungen betroffenen Bereichen zeigt sich ein deutlicher Zuwachs um ein Drittel.

Ein Befund, der durchaus repräsentativ ist und jede weitere Diskussion über die Zweckmäßigkeit der Rechtschreibreform erübrigen müßte. Es sollte jedoch noch weiter differenziert werden, um den Einfluß einzelner Regeländerungen genauer bestimmen zu können.
 

Einfluß der Rechtschreibreform auf einzelne Bereiche
 

1. Zeichensetzung

Zunächst fällt unter Bindestrich (3) unangenehm auf, daß die Neueinführung des Bindestrichs in 50-mal (mit den Differenzen 50fach, 50er) aus einem fehlerlosen Bereich einen fehlerträchtigen Bereich gemacht hat. Eine an Fehleranalysen orientierte Reform hätte auf diese Änderung natürlich verzichtet bzw. würde sie zurücknehmen. Im Bereich der nicht geänderten Zeichensetzung (außer Komma) fällt insgesamt eine überproportionale Zunahme der Fehlerquote um rund 50 Prozent auf, ebenso bei der syntaxgeleiteten GKS nach Doppelpunkt. Das deutet an, daß die Reform die Aufmerksamkeit der Anwender auf die Buchstaben- und Wortebene zieht, so daß für die Syntax weniger Aufmerksamkeit übrigbleibt.
 

2. Komma

Mit diesem unspezifischen schädlichen 50-Prozent-Effekt wäre auf den ersten Blick auch die Zunahme der Kommafehler von 82 auf 124 erklärt, denn Kommas regeln bekanntlich die Syntax. Man muß aber bedenken, daß die Neuregelung einige Kommaregeln abgeschafft hat, so daß tatsächlich Fehler erspart wurden, und zwar vor und + Hauptsatz, beim Normalfall des Infinitivs mit zu (kurz: Infinitiv) sowie bei den zwei Differenzierungen einfacher Infinitiv und Infinitiv als Subjekt am Satzanfang. Diese vier Fälle (0, 1 d, 2 b3, 2 d) betreffen 22 Fehler von 1998, die 2000 nicht mehr vorkommen konnten. Es fragt sich: Woher der Ausgleich dieses Gewinns?

Die Gegner der Reform argumentieren, abgesehen von Aspekten der Leserfreundlichkeit, daß der satzwertige Infinitiv nun einmal nebensatzwertig ist; wer sich erlaubt, beim erweiterten Infinitiv Kommas wegzulassen, wird das Komma auch bei Nebensätzen häufiger vergessen, wo es nicht freigestellt ist. Ebenso verführt die Sorglosigkeit beim Fall und + Hauptsatz (0) dazu, daß die schwierigeren Fälle, wo das Komma vor und stehen soll, noch weniger beherrscht werden: vor und das, und zwar usw. (3); sowie wenn es sich um ein schließendes Komma handelt, nach dem es mit und weitergeht (1 a, b, c).

Die Statistik sagt dazu folgendes: 1998 wurde insgesamt 17mal ein regelgerechtes Komma vor und vergessen, 2000 20mal. Die mögliche und von der SZ gelegentlich genutzte Einsparung des Kommas vor und + Hauptsatz hat also unter dem Strich zumindest nichts gebracht. Wenn man sämtliche Fehler bei Komma vor und addiert, also auch diejenigen, wo vor und ein Komma zuviel gesetzt wurde, ergeben sich 28 Fehler (1998) bzw. 38 Fehler (2000) – eine Verschlechterung.

Was die Fehlereinsparung beim Infinitiv betrifft, so wurden gegenüber 1998 zunächst 14 Fehler eingespart. Insgesamt wurden 1998 bei den gleichrangigen Fällen Anfang Nebensatz/Infinitiv/Apposition (2 a, b, c) 10 Kommas vergessen und 11 Kommas bei den Ausnahmen (1 d, 2 d) zuviel gesetzt, also insgesamt 21 Fehler. 2000 waren es 27. Selbst wenn man die ungemein schwierige und kaum bekannte Neuregelung ignoriert, daß das „Vorgreifer-es“ als kommapflichtiges hinweisendes Wort gilt, also die 7 Fehler in (2 b2) nicht rechnet, so ist offenbar, daß kein Fortschritt erzielt wurde (21:20). Auch die Einsparungen beim Infinitiv bringen also nichts, weil sie den noch größeren Bereich der Nebensätze in Mitleidenschaft ziehen.

Was die Leserfreundlichkeit angeht, so ist es natürlich keineswegs ein Vorteil, wenn dieselbe Struktur abwechselnd mit und ohne Komma präsentiert wird; dadurch schwindet nur der Informationswert des Kommas, wo es noch gesetzt wird, und andererseits fehlt es wieder, wenn man sich auf den Service des Kommas einstellen will. Einen didaktischen Effekt haben solche Texte in dieser Hinsicht nicht mehr. Zwar gelingt es der SZ fast immer, zu entscheiden, ob das Komma vor Infinitiv oder vor und + Hauptsatz notwendig oder verzichtbar ist; aber diese fallweise Prüfung dürfte vom Schreiber eine sehr hohe Fähigkeit erfordern, sich in den Leser hineinzuversetzen, und die meisten Nachahmer überfordern.

Etwas ganz anderes als die Ungleichbehandlung von satzwertigem Infinitiv und Nebensatz ist es, allein die beiden Differenzierungen der Infinitiv-Regeln (1 d) und (2 d) zu überprüfen. Sie waren ja von den Reformbetreibern immer genußvoll zitiert worden, um die Duden-Regelung der Kommasetzung bei Infinitiven als völlig verirrt darzustellen.

Was die selektive Kritik betrifft, ist sie richtig. Das zeigt sich daran, daß 1998 beim Normalfall des Infinitivs (2 b3) nur 3 Fehler zusammenkamen (also nicht einmal ein Fehler auf 10 Textseiten), aber bei den beiden Differenzierungen trotz ihrer relativen Seltenheit immerhin 11.

Aus dieser empirischen Sicht ist auch Ickler zu dem Ergebnis gekommen, daß die Duden-Regelung der Praxis nicht entspricht. Er liberalisiert daher, dem Usus entsprechend, ebendiese beiden Spezialfälle. Das hindert ja beispielsweise nicht, daß sie im Rang einer Empfehlung beibehalten werden können. Jedenfalls kommt man mit dieser empirisch gestützten Maßnahme ohne Konflikte mit benachbarten Fällen zu einer wirksamen Reduzierung der Infinitiv-Kommafehler von 17 (1 b, 1 d, 2 b, 2 d) auf 6 (1 b, 2 b).

Vergleicht man den ganzen Bereich der Kommafehler einerseits mit dem Ansatz von Ickler, andererseits mit dem Ergebnis der neuen Freiheit, so ergibt sich für die Fehlerquote: Ickler minus 15 Prozent, moderate Anwendung der Neuregelung plus 50 Prozent.

Geändert wurde beim Komma nur noch der Fall (10): Zuwachs der Fehler von 1 auf 5. Die 5 Fehler von 2000 mögen noch der mangelnden Gewöhnung zugeschrieben werden, vielleicht auch einer intuitiven Ablehnung der dreifachen Zeichensetzung; ärgerlich erscheint die Änderung anhand der Statistik aber vor allem, weil 1998 nur ein einziger Fehler vorkam. Der Fall betrifft ja die direkte Rede, also die Verwendung von Anführungszeichen. Wenn man sich die übrigen Zahlen in diesem Bereich ansieht (31/21), so kann es sich nicht um eine notwendige Maßnahme gehandelt haben, sondern nur um ein Produkt des reformerischen Restrukturierungswahns. Außerdem ist diese Änderung (Rezeption: „Nach Anführungszeichen jetzt immer Komma“) geeignet, Folgefehler des Typs „Lügen haben kurze Beine“, ist ein kluges Sprichwort nach sich zu ziehen.
 

3. Laut-Buchstaben-Zuordnung

Bei der LBZ ist die Kategorie der Einzelwörter (1) am interessantesten, weil die Diskussion der Reform ständig an Känguru und Schifffahrt aufgezogen wurde, wobei die Reformer so taten, als seien hier den Schreibern elementare Vereinfachungen zu verschaffen („Stärkung des Stammprinzips“ in Stängel usw.), die den Milliardenaufwand notwendig machten.

Im Licht dieser Untersuchung zeigt sich, daß die reformierten Einzelwörter überhaupt nicht zu den Schwierigkeiten der LBZ gehören, weder vor noch nach der Reform. Angesichts der elementaren Bedeutung der LBZ für die Berichterstattung und die Einschätzung der Reform in der Öffentlichkeit scheint es angebracht, die jeweils 25 Fehler hier einmal aufzuführen.

1998 (originale Reihenfolge, ohne Flexionsendung u. ä.): Ouverture, Hohheit, aus dem ff, antrazithfarben, chice, Komittee, Molotov-Cocktail, Variete, Zuhöhrer, Group Managing Direktor, Stop, Vorraussetzung, Rythmus, Fond (statt Fonds), [279] deretwegen, Cafe, Rechtssprechung, Albtraum, [381] Appendices, Tokyo, Marc Anton, achzig, Baustop (2 x), Stop. Zu den Zweifelsfällen siehe die laufenden Nummern. Wie man an Molotov-Cocktail oder Tokyo sieht, wurde streng der Duden von 1991 zugrunde gelegt, um auf die Behauptung der Reformer eingehen zu können, die Neuregelung spare im Vergleich zur Duden-Norm Fehler ein.

2000: asymetrisch, Cafe, akkustisch, Kommittee, räsonnieren, desparat (statt desperat), mytisch, adé, skuril, Sidney (2 x), Manitou, Kolokation (statt Kollokation), Andora, Antiqua (statt Antigua), nonstopp, excellent, nonstopp, Blutgerinsel, Venture Kapital, [634] freigiebig, Venture Kapital, aufgerauht, [815] aufwändig, Appel (statt Appell). Zur Beurteilung von freigiebig und aufwändig siehe die laufenden Nummern.

Wie man sieht, sind jeweils nur zwei Wörter betroffen: hier Hohheit und Albtraum, dort aufgerauht und aufwändig. Hohheit wurde zwar nicht selbst geändert, gehört aber in die geänderte Gruppe mit Roheit/Rohheit, Zäheit/Zähheit; deshalb die Erfassung oben bei der Auszählung der geänderten Bereiche. Albtraum war laut Duden falsch (deshalb die Erfassung als Fehler), gehörte aber zur allgemein üblichen Rechtschreibung, vgl. Ickler.

Der Fall aufgerauht steht als einziger für noch nicht verlernte Altschreibung; das zeigt, in welch hohem Maß die SZ-Redakteure die Neuschreibung nach zehn Monaten bereits beherrschten. Die Ausrede der Reformer, man müsse mit Fehleranalysen bis 2005 warten, weil die Neuregelung jetzt noch nicht verinnerlicht sei (so z. B. Gerhard Augst in „Neues Deutschland“ vom 4.8.2000), erweist sich nicht nur hier als Ablenkungsversuch. Der Fall aufwändig wurde im Licht der Hausorthographie der SZ bewertet; welche zusätzlichen Schwierigkeiten die Reform gerade auch wegen ihrer zahllosen „Variantenangebote“ in der Praxis aufhäuft, wird unten noch deutlicher; siehe LBZ (3, 4, 5).

Bei Cafe und Variete könnte der Akzent fehlen, weil er auf der Tastatur nicht zur Verfügung stand oder bei einer Textkonvertierung verlorenging. Beim einen oder anderen Fall, z. B. Andora, kann man auch einen Tippfehler als Hintergrund vermuten. Tippfehler wurden aber nur dann als solche erfaßt, wenn keine oder kaum eine andere Erklärung in Frage kam.

Schließlich ist noch der Fall Stop erwähnenswert. Die Schreibung Stopp war auch schon im Duden 1991 als Norm angesetzt; die Änderung der Neuregelung bestand darin, diese Schreibung auf den Sport auszudehnen, was vor allem für den Tennissport relevant ist (Volleystopp usw.). Das ist natürlich unsinnig, weil die Tennissprache von Anglizismen geprägt ist (Referee, Racket, Tiebreak, longline usw.). Der Irrtum, es handele sich bei nicht sportbezogenem Stopp um eine Regeländerung gegenüber dem Duden, hat einerseits vier Fehler gegenüber 1998 erspart, andererseits die zwei Fehler nonstopp produziert.

Sinnvoll wäre natürlich statt dessen die Anerkennung der Schreibung Stop gewesen, die (gerade in der Zielgruppe der Reform, bei Wenigschreibern) die Hauptvariante sein dürfte. Ickler hat dies berücksichtigt; damit werden zusammen mit Albtraum immerhin 5 „Fehler“ erspart (20 Prozent), und der Irrtum nonstopp wäre vermutlich ebenfalls nicht aufgetreten.

Ungeachtet dieser Fälle zeigt der Auszug, daß die Änderungen der Reform im Bereich LBZ überhaupt nichts mit Fehlervermeidung zu tun haben. Mag sich mancher Kultusminister oder Lehrer auch vorstellen, das Leben eines Kindes werde erleichtert, wenn es Gemse mit ä schreiben darf oder Schiffahrt mit drei f, so wird diese Annahme durch das vorliegende Material nicht gestützt. Vielmehr zeigt die Auswertung, daß es sich bei den Änderungen im Bereich LBZ um besonders unnötige und höchst willkürliche Änderungen handelt, die aufgrund ihres undemokratischen Charakters abzulehnen sind.

Die Argumentation, daß die Kinder die neuen Formen schon gelernt hätten, geht ebenfalls an der Realität vorbei. Wie man in jeder Illustration des Themas sehen kann, stehen schon in der Grundschule neue und alte Schreibungen nebeneinander; unabhängig davon wird jedes Kind mit neuen und alten Schreibungen leben müssen, solange die Reform nicht beendet wird. Es handelt sich bei der Reform faktisch um die gewaltsame Einführung von einigen tausend Varianten, die das Schreiben anstrengender machen. Jedem wäre geholfen, wenn diese überflüssigen Varianten wieder verschwinden würden.

LBZ (2) zeigt, daß im Bereich ss/ß-Neuregelung fast nur neue Fehler entstanden sind. 1998 waren es 3, davon einmal Fairness und einmal krass; letzteres wurde zufällig in einer Zwischenüberschrift zitiert und damit verdoppelt. Fairness gehörte 1998 selbstverständlich zur allgemein üblichen Schreibung: Kein Fitness-Center schrieb sich mit ß; neben Wellness wurde Fitness sowieso englisch belassen; in Fällen wie Uniqueness verbietet sich die Eindeutschung. Icklers empirischer Ansatz erkennt die starke Präsenz von Fairness an; es handelt sich allenfalls um einen Fehler im Sinne des Duden oder der SZ, die in derselben Ausgabe sogar Dreß schrieb – in der Bevölkerung gewiß die Nebenvariante.

Dagegen stehen 9 Fehler von 2000: 4 x Typ Schluß, 1 x Typ Zeugniss, 1 x Typ Fussball und 3 x dass statt des Relativpronomens das. Damit spiegelt sich auf statistisch niedrigem Niveau die allgemeine Erfahrung wider, daß durch die Reform falsche ss-Schreibungen multipliziert werden: bloss, Massnahme, schliessen usw. sind bei versuchter Neuschreibung oft ähnlich häufig wie die regelgerechte Verwendung von ss. Mit Sicherheit sind Millionen Deutsche noch der Meinung, daß das ß abgeschafft sei, ohne bei der Zeitungslektüre den Irrtum je zu bemerken.

Das bedeutet, daß nur 9 Fehler in einer SZ-Ausgabe eine hervorragende Leistung sind. Es ist nicht jedermanns Sache, in einem Text alle ss und ß ausfindig zu machen und zu prüfen, wie lang sich der vorhergehende Vokal dehnen läßt. Bei flüssigem Sprechen ist nämlich der Unterschied zwischen „langen“ und „kurzen“ Vokalen praktisch nicht vorhanden; man muß jedesmal eine bewußte Prüfung vornehmen.

Warum die bisherige Regelung sehr viel weniger fehlerträchtig war (außer in wenigen Wörtern wie wäßrig), kann hier nicht ausgeführt werden. Tatsache ist, daß die Neuregelung der ss/ß-Zuordnung insofern die schlechteste aller Änderungen ist, als sie die allermeisten neuen Fehler produziert. Dies zeigt sich zwar nicht in dem ausgewerteten Material, muß aber hier erwähnt werden. Denn die volle Konzentration, die sich die SZ-Redakteure offenbar für diese neue Regel abringen, fehlt an anderen Stellen.

Man kann nun einmal nicht seine Aufmerksamkeit beliebig vervielfachen, nur weil das nötig wäre, um ein Ansteigen der Fehlerzahl unter den Anforderungen der Rechtschreibreform zu verhindern. Bedenkt man dies, so wird der Anstieg der Fehlerquote auch in den nicht geänderten Bereichen (im Durchschnitt um ein Drittel, s. o.) plausibel.

Als wäre nicht klar genug, daß jede künstliche Neuschreibung mit ihrem Variantencharakter das Schreiben erschwert statt erleichtert, wartet die Reform auch mit unzähligen internen Varianten auf; vor allem bei den Trennungen (woraus auch in der SZ ein neuerdings chaotischer Zustand resultiert), aber auch im Bereich LBZ.

Unter anderem sollen selbständig und selbstständig zulässig sein (und zwar als gleichberechtigte Varianten); ...graph und ...graf sowie ...phon und ...fon sollen, jeweils mit ihren Verwandten, zulässig sein. Dabei wurde die „gezielte Variantenführung“ der Reformer so unregelmäßig gestreut, daß sich niemand merken kann, was im Einzelfall die Hauptvariante und was die Nebenvariante sein soll. Zu Potential, existentiell und dergleichen wurden, ebenfalls mit undurchschaubarer Qualifizierung, z-Varianten hinzugefügt.

Die Praxis kann natürlich weder Varianten noch deren Einteilung in Haupt- und Nebenvarianten brauchen. So hat die dpa in ihrer Hausorthographie, die sonst ein einziges Zeugnis der Inkompetenz ihres Urhebers Albrecht Nürnberger ist, immerhin versucht, aus den „Variantenangeboten“ der Reform auszuwählen. Dabei hat sie sich für selbstständig entschieden (was der Behauptung entspricht, daß die Deutschen dieses Wort immer schlecht ausgesprochen hätten) und für die z-Varianten sowie teils für ph-Varianten und teils für f-Varianten.

Der SZ hat selbstständig eingeleuchtet (anders als zum Beispiel dem „Spiegel“), nicht aber das Nebeneinander von ph- und f-Varianten. Hermann Unterstöger kündigte deshalb zum 1. August 1999 an: „Die SZ ... ersetzt ph hier konsequent durch f.“

Bei den neuen z-Varianten übernahm die SZ wiederum die Vorauswahl von Albrecht Nürnberger (dpa), der sich für die Abschaffung der traditionellen Formen entschieden hatte, etwa nach dem Motto: „Es wäre ja sinnlos, wenn man etwas erfindet und dann gar nicht verwendet.“ Die SZ illustrierte dies mit den Beispielen Differenzial, Potenzial, potenziell, präferenziell und sequenziell und merkte an, daß sie bei preziös umgekehrt verfahren wolle: in Zukunft pretiös.

Die Auswertung in LBZ (3, 4, 5) zeigt, was dabei herauskommt: insgesamt 30 Fehler gegenüber zuvor 6. Von diesen 6 betreffen allein 5 die Schreibung Telefon (davon 4 im selben Artikel), ein Verstoß gegen die Hausorthographie der SZ, die noch 1998 auf Telephon bestand und sich damit natürlich „Fehler“ einhandelte. Deshalb ist das Ergebnis nicht repräsentativ für die Presse. Realistisch wäre vielmehr die Verallgemeinerung, daß einzig der alte Fehler tendentiell den 30 neuen Fehlern gegenübersteht.

Fazit: Im Bereich LBZ haben die vieldiskutierten Einzelwortänderungen überhaupt nichts gebracht; der Befund zeigt ihre Überflüssigkeit. Statt dessen wurde vor allem bei Stopp eine Anpassung an die Realität versäumt und dessen Normbereich in die falsche Richtung ausgedehnt.

Die Änderung der ss/ß-Verteilung führte erwartungsgemäß zu mehr Fehlern. Die Verwechslung von das/daß wurde durch die Änderung in das/dass zu einer unbeherrschbaren Fehlerquelle. (Ursprünglich wollten die Reformer gar nicht die ss/ß-Verteilung ändern, sondern daß/das zu das „vereinheitlichen“, um die Möglichkeit der Verwechslung auszumerzen.)

9 Fehler bei s/ss/ß sind zwar ein exzellentes Ergebnis; die Aufmerksamkeit, die für das Auffinden der Fälle und die Prüfung der Vokallänge verwendet wird, fehlt jedoch an anderen Stellen. Würden die SZ-Redakteure mit derselben Hingabe beispielsweise nach Doppelpunkten und Anführungszeichen suchen statt nach ss und ß (beide Satzzeichen sind viel leichter zu entdecken) und sich dort die Syntax ansehen, hätten sie rund 40 Fehler einsparen können. Statt dessen sind daraus rund 60 Fehler geworden, und neue ss/ß-Fehler kamen trotz aller Mühe hinzu.

Durch die krampfhafte Eindeutschung von Fremdwörtern mit ph und t zugunsten von f und z sind auf der Ebene der von der Reform erzwungenen Hausorthographie praktisch nur neue Fehler hinzugekommen. Dadurch hat sich die Fehlerquote im Bereich LBZ etwa verdoppelt.
 

4. Groß-/Kleinschreibung

Bei der GKS finden wir eine Vervierfachung der Fehler in den geänderten Bereichen (41:11) und eine Zunahme um 50 Prozent in den nicht geänderten Bereichen. Damit entspricht der GKS-Befund annähernd der Netto-Gesamtauswirkung der Regeländerungen (Verfünffachung bzw. plus ein Drittel).

Ähnlich wie bei der Zeichensetzung einschließlich Kommatierung und bei der LBZ wurden die meisten Fälle nicht verändert: am Satzanfang GKS (1), grundsätzlich nach Wortart (2, 3) sowie bei der Anrede (4); die dpa und die Presse haben die Veränderung bei du/Du nicht umgesetzt. Dazu kommt eigentlich nur noch ein Sonderfall vom Typ rugby-gewohnt/Rugby-gewohnt in (8), der sowohl vor als auch nach der Reform nicht explizit genug geregelt war. Bis auf diesen Fall sind die unveränderten Regeln sehr grundlegend, so daß jeweils nur wenig Fehler entstehen.

Geändert wurde jedoch im Bereich Zahlwörter (5), und zwar wurden nur Ordinalzahlwörter, nicht aber Kardinalzahlwörter zur Großschreibung geschoben. Zum Beispiel: die drei Ersten, aber die ersten drei. Einerseits ist die gewaltsame Großschreibung schwierig, weil semantisch gleichrangige Ausdrücke ungleich behandelt werden – zum einen, zum anderen, zum Dritten –, andererseits vermehrt die Neuerung Fehler vom Typ die Drei, denn der Schnitt mitten durch die Zahlwörter ist natürlich völlig widersinnig. Grundsätzlich ist es so, daß sich auffällige Neuerungen auch dort ausbreiten, wo sie gar nicht vorgesehen sind. Insgesamt deutet sich eine Verdreifachung der Fehler an (12:4).

In der Gruppe (6) wurden alle sonstigen GKS-Neuerungen (außer Fremdwörter) zusammengefaßt: heute Abend, im Voraus, Folgendes, auf Deutsch, und Ähnliches etc. Ergebnis: Vervierfachung der Fehler. Wenn man dies mit den Einzelwortänderungen der LBZ vergleicht, wo sich überhaupt keine Zunahme zeigt, kann es sich nicht um mangelnde Gewöhnung handeln. Vielmehr kann die Abschaffung der Semantik zugunsten von grammatischen Proben, die ihrerseits höchst inkonsequent sind (teils zählt die Artikelprobe, teils nicht), vom Sprachgefühl offensichtlich kaum nachvollzogen werden. Es handelt sich also um etwas ganz anderes als bei den zwar sinnlosen, aber aus systematischer Sicht möglichen LBZ-Manipulationen vom Typ Gämse. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in der Fehlerquote.

Die Gruppe (7) faßt die Änderungen bei Fremdwörtern zusammen. Die gewaltsame Verabsolutierung der Wortartprobe führte zu folgenden 9 Fehlern: spiritus rector, Primus inter pares, upper-class-Römer, Pro-Forma-Zahlen, retail banking, Pars pro toto, E-mail-Adresse, terre des hommes, Happy Birthday. Teilweise wurde also auf durchgängige Kleinschreibung ausgewichen; dies hätte aber kursiv gesetzt werden müssen, wie es die SZ in solchen Fällen handhabt.

Zwar scheint es den SZ-Redakteuren im Normalfall zu gelingen, fremdsprachige Substantive zu identifizieren (das kann die Zielgruppe der Reform überhaupt nicht), aber die Überforderung setzt bei den Substantivierungen ein: Pars pro Toto, Primus inter Pares. Schließlich muß noch erkannt werden, daß manchmal das Substantiv nicht oder ursprünglich nicht zu einem substantivischen Gesamtbegriff gehört: Happy birthday ist kein Substantiv, sondern ein Satz, und Pro-forma-Zahlen ist zwar ein Substantiv, aber nicht pro forma, nach dem sich die Kleinschreibung richtet; vgl. A-cappella-Chor, In-vitro-Fertilisation. Wie man sieht, ist der grammatische Rigorismus der Reformer unüberbietbar kompliziert.

1998 standen dem nur folgende 2 Fehler gegenüber: Fast-Food-Gesellschaft, Joint Venture. Beide gehörten längst zu allgemein üblichen Schreibung; bekanntlich war die Rückständigkeit des Duden bei Fremdwörtern groß, was zum Teil ganz einfach daran liegt, daß Fremdwörter heute schneller denn je importiert und integriert werden. Wer schrieb 1998 noch on-line, nur weil das noch so im Duden stand? Ickler erkennt völlig zu Recht Joint Venture an und durch die allgemeine Feststellung im Regelteil „In englischen Ausdrücken werden oft noch weitere Teile [außer dem ersten Wort] groß geschrieben: Soft Drink“ auch Fast Food; die Schreibung wurde nur im Wörterteil nicht verzeichnet.

Geht man also von der üblichen Rechtschreibung aus, war die GKS bei Fremdwörtern 1998 fehlerlos. Das gibt den 9 Fehlern von 2000 eine herausstechende Auffälligkeit; mehrteilige fremdsprachliche substantivische Begriffe sind schließlich nicht besonders dicht gesät.

Neben Zahlwörtern und Fremdwörtern gibt es noch einen dritten gut abgrenzbaren Bereich, der in der 1998 fehlerfrei war und durch die Reform unbeherrschbar wird: die Tageszeiten. Aus heute abend, morgen früh, Dienstag abend wird: heute Abend, morgen früh, Dienstagabend. Selbstverständlich ist das nicht nur eine grammatische Fehldeutung, sondern auch eine enorme Veruneinheitlichung.

So wurde 2000 geschrieben: am Donnerstag morgen, Donnerstag Abend, Dienstagfrüh, Freitag Nachmittag. Der erste Fehler ist unter den Bedingungen gewaltsamer Getrenntschreibungen natürlich häufiger als zuvor, die anderen sind repräsentativ für typische Folgen der neuen Regel; sie sind unter GZS (5) erfaßt, obwohl es sich eigentlich um Folgefehler der GKS (6) handelt. Außerhalb der SZ wird übrigens die Großschreibung weiter ausgedehnt, z. B. mit sprunghafter Vermehrung er kommt Morgen und er kommt Dienstags.
 

5. Getrennt-/Zusammenschreibung

Die GZS wird von den Reformern mit auffälliger Leidenschaft ins Feld geführt, um die Notwendigkeit der Neuregelung und ihre Überlegenheit zu behaupten. So zitierte der Reformer Klaus Heller am 31. Juli in der „Berliner Morgenpost“ wieder einmal einige Zweifelsfälle der Duden-GZS, um zu beklagen, daß die Trefferquote der Schreiber wenig befriedigend gewesen sei, und um festzustellen: „Hier hat die neue Regelung ganz klar Abhilfe geschaffen.“

Die Untersuchung der GZS ist aufgrund der Häufigkeit der Fälle besonders zuverlässig und auch besonders eindeutig, weil so gut wie alles neu definiert wurde. Nur bei Substantiven ist eine „englische Lösung“, z. B. Schach Spieler, nicht gewagt worden. Man sieht an diesem Beispiel, daß die Substantivgroßschreibung auch in zahlreichen Fällen der GZS klare Verhältnisse schafft – die Vorteile einer „gemäßigten“ Kleinschreibung wären m. E. schnell durch eine völlige Veruneinheitlichung der GZS mehr als zunichte gemacht, gerade im Deutschen mit seiner unerschöpflichen Fülle von Zusammensetzungen.

Die Situation ist bei Substantiven unter den Bedingungen der Großschreibung also nahezu autark. Sie erscheinen zusammen mit wenigen anderen unveränderten Fällen – z. B. daß kein Abstand nach einer Klammer folgt, wenn nur ein Wortteil eingeklammert wird – als „sonstiges“ unter GZS (8). Der Zuwachs von 6 auf 9 Fehler ist unerheblich. Somit bilden die Neuerungen bei den anderen Wortarten die Effekte der Neuregelung nahezu reinrassig ab und können als Zeugnis der Reform insgesamt dienen.

Nach der Logik der Reformer dürfte sich kein Zuwachs an Fehlern zeigen, weil der Duden schließlich jeden überfordert habe. (Deshalb wird der Vergleich mit dem allgemeinen Schreibgebrauch, wie ihn Ickler erfaßt hat, in diesem Bereich sehr wichtig sein.) Auch wurde wieder und wieder behauptet, ohne die ss/ß-Fälle sei nicht einmal ein Prozent des Wortschatzes betroffen und weniger als ein Prozent der Wörter im Text. Die Auswertung der SZ zeigt folgendes.

GZS (1), Geltungsbereich der Partikelliste in § 34 (1), zuzüglich des Falls kennen lernen, § 34 (6): Zuwachs von 5 auf 54 Fehler. Alle 5 Fälle von 1998 sind bei Zugrundelegung von Ickler statt Duden keine Fehler.

GZS (2), Geltungsbereich der Steigerbarkeit/Erweiterbarkeit-Regel sowie der -ig/-isch/-lich-Regel, § 34 (3): Zuwachs von 8 auf 29 Fehler. Alle 8 Fälle von 1998 sind bei Zugrundelegung von Ickler keine Fehler.

GZS (3), sonstige Zusammenschreibung bei Partizipien und Adjektiven, vor allem Geltungsbereich der Wortgruppen-Probe nach § 36 (1): Zunahme von 3 auf 23 Fehler. Zwischenstand: Zuwachs von 16 auf 106 Fehler. Bei Vergleich von Ickler 1998 und Neuregelung 2000: Zuwachs von 3 auf 106 Fehler.

In GZS (4), andere Wortarten, wurde zwar auch neu definiert, aber von den Schreibungen selbst wurde nicht allzuviel verändert. Anders als bei Verben und Partizipien handelt es sich nicht um riesige Wortfamilien, sondern eher um Fälle, die einzeln memoriert werden, unabhängig von der Regel.

Ein Beispiel. Man merkt sich: „wie viel jetzt immer getrennt“; man denkt nicht an die Regel, hier § 39: „Mehrteilige Adverbien, Konjunktionen, Präpositionen und Pronomen schreibt man zusammen, wenn die Wortart, die Wortform oder die Bedeutung der einzelnen Bestandteile nicht mehr deutlich erkennbar sind. ... E2: In anderen Fällen schreibt man getrennt. Siehe auch § 39 E3(1). Dies betrifft ... (2) Fälle, bei denen die Wortart, die Wortform oder die Bedeutung der einzelnen Bestandteile deutlich erkennbar ist und zwar ... (2.4) so, wie oder zu + Adjektiv oder Pronomen, zum Beispiel: ... so (wie, zu) viel Geld ...“

Solche Regeln kann sich keiner merken. Deshalb ist es geboten, die Fälle einzeln danach zu unterscheiden, ob die Schreibung tatsächlich geändert wurde oder nicht. Bei nicht geänderter Schreibung, GZS (4 a): Rückgang von 24 auf 21 Fehler; nicht signifikant. Bei geänderter Schreibung, GZS (4 b): Zuwachs von 11 auf 32 Fehler; Verdreifachung der Fehlerquote. Bei Zugrundelegung von Ickler für 1998 wären in GZS (4) von den insgesamt 35 Fällen 18 keine Fehler und nur 17 Fehler. Im Vergleich mit der Neuregelung: Zuwachs von 17 auf 53 Fehler: dreifach höhere Fehlerquote im gesamten Bereich „sonstige Wortarten“.

GZS (5) kann außer acht bleiben, weil hier nur Folgefehler der Großschreibung von Tageszeit-Adverbien erfaßt wurden, vgl. Kommentar zu GKS (6). Es muß aber noch die Hausorthographie der SZ berücksichtigt werden. Die SZ lehnt sich dabei weitgehend an die Hausorthographie der dpa an und definiert sich somit als modifizierte dpa-Orthographie.

GZS (6): Weil sich die SZ nicht zu wiedersehen etc. äußert, ist davon auszugehen, daß die Getrenntschreibung der dpa beibehalten werden soll (gemäß Duden und später auch allen anderen Lexika; sowie dem überwiegenden Usus der Presse entsprechend). Bei der umgekehrten Annahme würde eine ähnliche Fehlerzahl resultieren, denn die Schreibung in der SZ wechselt ungefähr 50:50 zwischen getrennt und zusammen.

GZS (7): Ausdrücklich bekennt sich die SZ zur dpa bei der gewaltsamen Getrenntschreibung in auf Grund, zu Gunsten, zu Wege bringen – dies sind die Beispiele in der Veröffentlichung vom 31.7./1.8.1999. In diese Reihe gehört auch die dpa-Vorgabe hier zu Lande. Zusammen ergeben sich nochmals 19 neuartige Fehler. Die Addition für den Bereich GZS ergibt folgendes.

Geänderte Bereiche bzw. Wörter: Zuwachs von 27 auf 160, Versechsfachung der Fehlerquote. Gesamte GZS: Zuwachs von 57 auf 190, mehr als Verdreifachung. Bei Zugrundelegung von Ickler für 1998: statt 57 nur 26 Fehler, Einsparung mindestens 50 Prozent. Vergleich von Ickler 1998 und Neuregelung 2000: Anstieg von 26 auf 190 Fehler, mehr als Versiebenfachung.

Es fällt auf, daß bei weitem die meisten der „alten“ Fehler, auch bei Zugrundelegung von Ickler, im Bereich der „sonstigen Wortarten“ auftreten. In der Tat gibt es hier viele fließende Übergänge und feine Differenzierungen: zu viel/zuviel, derselbe/der gleiche, soweit (Konjunktion)/soweit oder so weit (andere Verwendung) usw.

Ickler hat hier zum Beispiel das überaus häufige nochmal anerkannt, ist aber im Grunde konservativ geblieben (Getrenntschreibung bei erst mal, schon mal u. ä.), weil es in diesem Bereich kein allgemeines Konstruktionsprinzip gibt wie „Verbzusatz“ bei Verben, bei dem so viele Kriterien auf die Schreibung einwirken, daß eine grundsätzliche Freigabe der GZS naheliegt, wenn man nicht wie der Duden in das Gestrüpp der Einzelfestlegungen geraten will. Vielmehr kann man in diesem Bereich einzelne Fügungen statistisch auswerten, wie es Ickler getan hat.

Dabei kandidieren aber durchaus noch mehr Fälle für eine dem Usus folgende Freigabe; m. E. ist zum Beispiel sowas ebenso häufig wie nochmal und gleichberechtigt mit so was; ähnlich das einwandfrei konstruierte von all dem neben der strengen Normschreibung von alldem. Würde man allein noch diese beiden freigeben (zusammen 7 Fälle), ergäbe sich beim Vergleich von Duden und Ickler für 1998 ein Verhältnis von 57:19, das heißt Einsparung von zwei Dritteln der Fehler.

Und beim Vergleich des Prinzips von Ickler mit der Neuregelung ergäbe sich ein Verhältnis von 19 zu 190: zehnfach höhere Fehlerquote in der gesamten GZS. So etwa sieht der Unterschied zwischen Vernunft und Unsinn in der Praxis aus.
 

Ausblick

Es ist hier nicht der Ort, die Lösung von Ickler im einzelnen zu analysieren und zu würdigen. Allerdings: Es geht um die Verringerung der Fehlerquote – zwar nicht das einzige Kriterium für eine gute Schreibnorm, aber das einzige ernstzunehmende Ziel der Reform. Wie man sieht, ist nicht nur bei der GZS, aber gerade in diesem komplexesten Bereich der Rechtschreibung die „alte“ Duden-Norm um eine Größenordnung besser als die Neuregelung – schon allein aus der Perspektive der Fehlerquote. Man kann aber die Verirrungen des Duden meiden und die Aufgabe, den Schreibgebrauch realistisch darzustellen, einfach noch besser bewältigen, als es dem Duden möglich war, und daraus ergibt sich noch einmal eine erhebliche Verminderung der Fehlerquote.

Gerade bei der GZS ist zu beobachten, wie sinnlos das Argument ist, nur soundso viel Prozent des Wortschatzes würden durch die Reform verändert. Zum einen sieht man den Wörtern ja nicht an, welches sich ändert und welches nicht – dazu braucht man die Regeln und muß sie fortlaufend bereithalten. Zum anderen: Fast alle Fehler in GZS (1) – die größte Gruppe und der stärkste Zuwachs – betreffen Schreibungen, die gar nicht verändert werden sollten: zurück kommen, mit protestieren usw. sind ja nicht vorgesehen. Statt dessen sind sie das Ergebnis einer totalen Veruneinheitlichung.

Es ist absurd, einige Verbzusätze zur obligatorischen Getrenntschreibung zu schlagen, andere zur obligatorischen Zusammenschreibung und für eine dritte Gruppe äußerst komplizierte grammatische Prüfungen vorzuschreiben (Erweiterbarkeit/Steigerbarkeit). Denn wer auseinander brechen liest, wird auch zusammen brechen schreiben, wer darunter gelegt liest, wird auch still gelegt schreiben. Völlig gleichartige Konstruktionen sollen durch die Reform auseinanderdividiert und um mehr als hundert Jahre Entwicklung voneinander getrennt werden.

Bei Verbzusätzen war die Entwicklung zur Zusammenschreibung nie abgeschlossen, es hatte sich vielmehr zu jeder Zeit ein in sich ausgewogenes Gleichgewicht herausgebildet, ähnlich wie in anderen Übergangsbereichen. Nun aber sind Millionen Schreibende sozusagen ins 19. Jahrhundert zurückversetzt worden und schreiben in diesem riesigen Bereich viel mehr getrennt, als es die Neuregelung überhaupt vorsieht. Die Ausgeglichenheit wurde zerrissen und die Verteilung weit in Richtung Getrenntschreibung zurückgeschoben.

Um so mehr entspricht Icklers liberale Darstellung der GZS heute der Realität. Sie könnte als goldene Brücke zwischen der verwüsteten Rechtschreibung der letzten Jahre und einer vernünftigen Schreibkultur des 21. Jahrhunderts eingesetzt werden. Der Presse, für die diese Auswertung gedacht ist und die einen großen Einfluß auf das Schreiben aller Deutschen ausübt, sei deshalb empfohlen, dem Rechtschreibwörterbuch von Theodor Ickler lebhaftes Interesse entgegenzubringen.