Veränderung der Fehlerzahlen durch die Rechtschreibreform

Beispiel: Süddeutsche Zeitung Nr. 143, 24./25. Juni 2000 (Stadt-Ausgabe)
im Vergleich mit Süddeutsche Zeitung Nr. 13, 17./18. Januar 1998 (Stadt-Ausgabe)
 

Teil I: Exposé

In den letzten Wochen, ein Jahr nach der Umstellung der Presse auf verschiedene neue Rechtschreibungen, wird die Diskussion um die Rechtschreibreform erneut heftig geführt. Nachdem sich immer mehr Menschen mit den neuen Regelungen haben beschäftigen müssen, ist vielen deutlich geworden, daß von Verbesserungen kaum die Rede sein kann. Zugleich wird durch zahlreiche Umfragen bestätigt, daß nach wie vor eine breite Mehrheit für die Abschaffung der Reform ist und nur die wenigsten die Absicht haben, sich den neuen Regeln freiwillig zu fügen.

Die Rückkehr der F.A.Z. zur gewachsenen Einheitsschreibung vor der Reform, zur Schreibweise der Schriftsteller und der Gebildeten, geschah nicht aus einer Laune heraus, sondern nach einem Jahr intensiver und mühevoller Praxis. Dabei war die nüchterne Erkenntnis ausschlaggebend, daß sich die Ziele der Reform nicht erreichen lassen: weder eine bessere Beherrschung des Schreibens noch verständlichere Regeln. Daß auch viel finanzielle und politische Substanz zerstört wurde und daß die Rechtschreibung unter der Reform nicht verbessert, sondern zerstückelt wird, konnte auf Dauer nicht ignoriert werden.

Somit stellt sich auch für die übrige deutsche Presse die Frage, ob man zu dem Zustand vor der Reform zurückkehren soll, wie es die Mehrheit der Leser wünscht; oder was man statt dessen tun soll.

Die vorliegende Arbeit geht von der Überlegung aus, daß die Rechtschreibreform eigentlich nur ein Ziel hat: das Schreiben zu erleichtern, das heißt, die Regeln so zu ändern, daß Fehler vermieden werden. Nur wenn dieses Ziel tatsächlich erreicht wird, könnte es sinnvoll sein, der Reform Folge zu leisten. Wenn sich aber nichts verbessert oder wenn sogar die Fehler sich vervielfachen – das hat die F.A.Z. bei der Begründung ihrer Umorientierung behauptet –, gibt es keinen vernünftigen Grund, das in verschiedener Hinsicht destruktive Unternehmen fortzuführen.

Die Meinungen über Erleichterungen und Erschwernisse durch die Reform gehen auseinander. Was bisher fehlt, ist eine empirische Erhebung. Diese kann aber nicht an Schulen durchgeführt werden, weil Schüler bei weitem nicht die ganze Rechtschreibung anwenden. Es ist überhaupt verwunderlich, daß regelmäßig Grundschullehrer nach ihren Erfahrungen befragt werden und sich dazu äußern, obwohl der Lehrstoff des Grundschulunterrichts natürlich überhaupt nichts mit den Schwierigkeiten der Rechtschreibung zu tun hat.

Selbst wenn es minimal leichter sein sollte, Känguruh ohne h zu lernen und Delphin mit f – was hätten Kinder davon, wenn sich die Hauptschwierigkeiten nicht ändern oder sogar vergrößern? Das, was ein ABC-Schütze noch für schwierig hält, wird er nach zwei Jahren ohne weiteres beherrschen.

Entscheidend ist, ob die Reform solche Schwierigkeiten vermindert, die auch nach der ganzen Schulzeit noch eine Rolle spielen. Also muß man die Auswirkung der Neuregelung dort prüfen, wo sie als ganze angewendet wird. Hierfür eignet sich besonders die Presse, aus zwei Gründen.

Zum einen wissen Redakteure, daß ihre Texte zum Teil von vielen tausend Lesern gelesen werden, und haben daher Anlaß, die neuen Regeln intensiv zu lernen. Dieses Lernen in der Praxis dauert mittlerweile ein Jahr, so daß man sagen kann, daß der Durchschnitt der Bevölkerung die Neuregelung niemals so gut beherrschen wird wie diese elitäre Gruppe; erst recht nicht die Zielgruppen der Reform, etwa die sogenannten Wenigschreiber. Falls die Reform tatsächlich Erleichterungen auch für die ganz Jungen und die Ungeschickten bereithält, müßten die Änderungen jedenfalls längst von den geübten Zeitungsredakteuren verstanden worden sein – es dürften sich demnach zumindest nicht mehr Fehler in der Presse zeigen als zuvor.

Der zweite Grund ist, daß Zeitungen von einem Kollektiv erstellt werden, so daß man einen brauchbaren Durchschnitt erhält, in dem sich die Schwächen und Stärken einzelner Schreiber nicht verzerrend auswirken.

Zur Überprüfung hatte ich bereits zwei „Spiegel“-Ausgaben ausgewertet; dort ergab sich im Vergleich von typischen alten und typischen neuen Fehlern ungefähr eine Verdreifachung der Fehlerquote. Eine der Untersuchungen ist hier veröffentlicht. Unbefriedigend war jedoch, daß die Texte des „Spiegel“ von Spezialisten korrigiert werden, so daß sich in diesem Magazin nur noch Fehler zeigen, die entweder auf Versehen zurückgehen oder auf Höchstschwierigkeiten beruhen. Außerdem handelte es sich nicht um einen direkten Vergleich zwischen Ausgaben vor und nach der Reform, der noch zuverlässiger gewesen wäre. Schließlich ließ auch die relativ geringe Gesamtzahl der Fehler keine allzu differenzierten Schlüsse zu.

Deshalb habe ich eine wesentlich größere Untersuchung angeschlossen, bei der diese Nachteile nicht mehr vorhanden sind: einen direkten Vergleich zweier Wochenendausgaben der Süddeutschen Zeitung, eine von Anfang 1998, eine von Mitte 2000. Die Ausgabe von 2000 war etwas umfangreicher (ohne Anzeigen und Abbildungen ca. 34 ganze Textseiten) als die Ausgabe von 1998 (ca. 28 ganze Textseiten); zum Ausgleich wurden die Seiten 1 bis 10 (ca. 6 Textseiten) der Ausgabe vom folgenden Wochenende mit ausgewertet.

Die Gesamtzahl an Fehlern und uneinheitlichen Schreibweisen beträgt in der Ausgabe von Mitte 2000 weit über 1000 (die Besonderheiten der SZ-Hausorthographie wurden natürlich berücksichtigt). Davon wurden viele uneinheitliche Schreibweisen nicht dokumentiert, z. B. bei Trennungen, weil Mängel in diesem Bereich nicht von Redakteuren stammen, sondern von einem Textverarbeitungsprogramm. Festgestellt und dokumentiert wurden für diese Ausgabe insgesamt 906 Fehler, für die Vergleichsausgabe 530. Diese Menge ist groß genug, um nach sorgfältiger Auswertung differenzierte Erkenntnisse über die Veränderung der Fehlerzahlen zu gewinnen.

Untersucht wurde allerdings noch etwas zweites. Bekanntlich hatte der „alte Duden“ seine Tücken, vor allem bei der Festlegung von Zweifelsfällen, und manche Kritik an ihm ist berechtigt. Vereinfacht gesagt, hatte der Duden seine Aufgabe, den Schreibgebrauch zu verzeichnen und in überschaubare Regeln zu bringen, teilweise nicht gut bewältigt; er verdeckte mit seiner Interpretation der Rechtschreibung stellenweise den Gegenstand, den er darstellen sollte.

Nun hat es der Erlanger Germanist Theodor Ickler unternommen, ein Regelwerk und ein Wörterbuch zu erarbeiten, das die Einheitsschreibung vor der Reform noch besser darstellt als der Duden. Es wurde hier neben dem Duden als zweiter Auswertungsmaßstab für die SZ-Ausgabe von 1998 herangezogen.

Somit konnte verglichen werden: die amtliche Neuregelung mit dem „alten“ Duden (angewendet auf SZ 2000 bzw. SZ 1998); Duden mit Ickler (1998/1998); und schließlich die Neuregelung mit Ickler (2000/1998). Dabei stellten sich folgende wesentliche Befunde heraus.

Die Fehlerquote der SZ wird insgesamt ungefähr verdoppelt, von 277 auf 582. (Nicht enthalten: Bereich Trennungen.)

Damit kann der Effekt der Neuregelung aber kaum beschrieben werden, weil viele Regeln gar nicht geändert wurden. Aussagekräftig ist vielmehr der Befund nur in den geänderten Bereichen. Dort zeigt sich die „Netto-Veränderung“:

Die Fehlerquote wird in den veränderten Bereichen ungefähr verfünffacht, von 51 auf 262 Fehler. (Nicht enthalten: Kommafehler.)

Der Vergleich von Neuregelung, Duden und Ickler ergibt im einzelnen (als Quotienten dargestellt):

Kommafehler: Neuregelung/Duden plus 50 Prozent, Ickler/Duden minus 15 Prozent, Neuregelung/Ickler plus 75 Prozent.

Laut-Buchstaben-Zuordnung (LBZ): Bei Einzelwörtern Neuregelung/Duden keine Änderung; Ickler/Duden minus 20 Prozent. Bei den ss/ß-Fällen deutliche Zunahme durch die Neuregelung, ebenso bei den Verstößen gegen die SZ-Orthographie im Bereich Fremdwörter mit ph/f und t/z. LBZ insgesamt: Verdoppelung der Fehlerquote.

Groß-/Kleinschreibung: Insgesamt Verdoppelung der Fehlerquote, in den geänderten Bereichen Vervierfachung. Einzelne Vorteile bei Ickler.

Getrennt-/Zusammenschreibung (GZS): Neuregelung/Duden keine Veränderung in den nicht geänderten Bereichen. In den geänderten Bereichen Versechsfachung der Fehlerquote.

Gesamte GZS: Neuregelung/Duden mehr als Verdreifachung, Ickler/Duden minus 50 Prozent, Neuregelung/Ickler mehr als Versiebenfachung.

Diese Zahlen bedeuten:

Die Rechtschreibreform ist vollkommen sinnlos, denn nicht einmal den Redakteuren der Süddeutschen Zeitung gelingt es, sich der explosionsartigen Zunahme der Fehlerzahlen in den geänderten Bereichen zu entziehen.

Das Scheitern dieser führenden Zeitung an der Rechtschreibreform spricht nicht gegen ihre Redakteure, sondern gegen die Rechtschreibreform. Die bewährte Rechtschreibung ist allein schon aus der Perspektive der Fehlervermeidung uneinholbar der Neuregelung überlegen, abgesehen von ihren sonstigen beträchtlichen Vorzügen.

Allerdings zeigt die Untersuchung auch, daß man die Rechtschreibung noch realistischer und günstiger erfassen kann, als es dem Duden gelungen ist. Nach dem fälligen Ende der Rechtschreibreform sollte dem Ansatz von Theodor Ickler deshalb besondere Beachtung geschenkt werden.

Zu den Ergebnissen siehe im einzelnen Teil II.