Gunnar Böhme: Zur Entwicklung des Dudens und seinem Verhältnis zu den amtlichen Regelwerken der deutschen Orthographie. Peter Lang, Frankfurt 2001, XVI, 466 S. (Theorie und Vermittlung der Sprache Bd. 35)
Das Buch ist eine von Dieter Nerius betreute Dissertation. Die Reihe wird von Gerhard Augst mitherausgegeben.
Böhme zeigt an kleineren Regelkomplexen wie z. B. der Dreibuchstabenregel, in welcher Weise der Duden im Wandel der Zeiten die amtlichen Regeln auslegte und anwandte. Am Ende heißt es etwas überraschend:
Die wichtigste Schlußfolgerung aus der vorangegangenen Untersuchung ist zunächst ganz pauschal die Unerläßlichkeit des Weiterbestehens einer in einem offiziellen Regel- und Wörterverzeichnis kodifizierten amtlichen Regelung der deutschen Orthographie. (433)
Dies folgt aber keineswegs aus den Darlegungen. Böhme fährt fort und schließt sich wörtlich an die bekannte Poisition seines Doktorvaters Nerius an:
Da diese Norm (von 1901/02) staatlicherseits festgelegt wurde, ist sie auch nur durch erneute staatliche Eingriffe zu ändern. (433)
Er sieht die Ursache des Reformbedarfs darin, daß 1901/02 nicht alle Bereiche geregelt wurden und der Staat in der Folgezeit nicht hinreichend auf die Tendenzen im Schreibgebrauch und auf das Bedürfnis der Schreibenden nach weiteren, verbindlichen und verläßlichen Anweisungen für jeden Einzelfall reagierte.
Dadurch blieb es fatalerweise privaten Initiativen wie der von Konrad DUDEN und seinen Nachfolgern mit dem Duden überlassen, im Interesse der Sprachbenutzer den Interpretationsspielraum durch Konkretisierungen und Differenzierungen der Regelung auszufüllen und Normierungen über den amtlich vorgegebenen Rahmen hinaus vorzunehmen. (434)
(Was soll daran fatal sein? Das wird es doch erst durch die staatliche Privilegierung. Andernfalls könnte man den Duden als mehr oder weniger sinnvollen Vorschlag für eine einheitliche Schreibweise betrachten.)
Böhme beklagt die mangelnde staatliche Kontrolle solcher Orthographiedarstellungen wie der im Duden (434)
Er fordert für die Zukunft:
Die deutsche Rechtschreibung muß umfassend kodifiziert sein. D. h., daß alle orthographischen Regelteilbereiche so vollständig und detailliert wie möglich in einem amtlichen Regelwerk fixiert sein müssen. Die Normierung sämtlicher Einzelfälle, die nicht oder nicht eindeutig anhand der Vorschriften im Regelapparat erfaßbar sind, muß über ein amtliches Wörterverzeichnis erfolgen.
(...) Die Einhaltung dieser Vorgaben (in nichtamtlichen Wörterbüchern, Th. I.) müßte staatlicherseits regelmäßig kontrolliert werden.
Man wirft dem Duden einerseits vor, den Kontakt zu den seit langem nicht mehr abgedruckten und kaum noch bekannten Regeln von 1901 verloren zu haben, andererseits beklagt man, daß die seither vorgenommenen Änderungen meist Anpassungen an den Schreibgebrauch nicht den amtlichen Segen gefunden hatten, weil der Staat sich kaum noch um solche Dinge gekümmert, sondern sie längst und 1955 auch offiziell an den Duden abgetreten hatte. Der Sache nach waren also die Benutzer mit der privatwirtschaftlichen Betreuung durchaus gut bedient und zufrieden, der einzige Makel bestand in den Augen von Böhme und Nerius darin, daß sie nicht staatlich war.
Die von Böhme skizzierte, bis ins kleinste Detail geregelte und zugleich von der Staatsmacht streng kontrollierte Rechtschreibung ist wohl eher eine Horrorvision. Vielleicht soll damit die Staatsgläubigkeit des ehemaligen SED-Genossen Nerius bis in ihr selbstparodistisches Extrem getrieben werden.
Das Buch ist in herkömmlicher Rechtschreibung gedruckt. Der Verfasser versichert, weder emotionale noch fachliche Vorbehalte gegen die Neuregelung zu haben. Aber er wolle keinen Bruch entstehen lassen zu der Orthographie, die zum überwiegenden Teil den Gegenstand meiner Untersuchung ausmacht (...) Zum anderen geschah dies in Reminiszenz an die erste, fast hundertjährige deutsche Einheitsorthographie und in Verbeugung vor den Leistungen ihrer Verfechter aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, allen voran Konrad DUDEN. (Vorwort)
Herausgeber und Betreuer, also Augst und Nerius, müssen mit dieser Regelung einverstanden gewesen sein.
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Th. Ickler
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